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Wie fühlt es sich an, ein Reiseunternehmen zu lenken, wenn das Reisen auf einmal kaum mehr möglich ist? Interview mit Martin Fischer, Inhaber von berg-welt ag & Bergführer IVBV zu den letzten Monaten und zur Zukunft.

berg-welt: «Martin, anspruchsvolle und intensive 6 Monate liegen hinter uns – wie hast du als Inhaber von berg-welt diese ausserordentliche Zeit erlebt?»

Martin Fischer: «Ich war mitten in der Skitourensaison, in einer heilen, unbeschwerten Welt von wunderbaren Winterlandschaften mit fröhlich gestimmten, gut gelaunten, lieben Gästen unterwegs. Gedanklich teilweise bereits bei den Ski-Expeditionen in Grönland und Spitzbergen. Die Corona-Problematik (noch) weit weg. Während der Woche im Südtirol sind die Ansteckungs-Zahlen in Italien explodiert, 2 Tage nach unserer Rückkehr die Grenze zu. Kurz darauf der Lockdown usw.

Im Büro ungewohnte Herausforderungen und Turbulenzen, völlig neue Fragestellungen: Können die Reisen der nächsten Tage und Wochen starten? Welche Grenze ist noch offen, welche Airlines fliegen? Welche Risiken bestehen? Tägliche Änderungen. Ein Beispiel: Am Sonntagmorgen um 3 Uhr früh erhält Brigitte die Nachricht unseres Partners vor Ort, dass Kanada  Grenzschliessung und Quarantäne diskutiert, nach telefonischer Diskussion entscheiden wir um 5 Uhr, die Yukon-Schneeschuh-Gruppe, welche um 11 Uhr abfliegen sollte, zu stoppen, eine halbe Stunde später sind Brigitte und Karin im Büro um alle Teilnehmenden telefonisch zu informieren und zurückzuhalten...

In der Folge anhaltende Annullationen, aufgestaute Summen von Flugkosten, enorme Belastungen unseres Teams, welches die Herausforderungen mit Bravour bewältigt. Wir erleben die Enttäuschungen unserer Kunden, erleben wie ein halbes Jahr Arbeit und Engagement mit viel Herzblut wie Schnee an der Mai-Sonne zerrinnt. Ständig ändernde Situationen und Erkenntnisse, laufend Zunichte gehende Reise-Hoffnungen aller Seiten – unserer Gäste, unserer Dienstleister – allen voran unserer langjährigen Partner und Mitarbeiter vor Ort - und unserer eigenen.

Rollende Planung – wie geht es weiter, mit was können wir rechnen, was haben wir für Möglichkeiten und Alternativen, was wird im 2020 noch möglich sein, wie wird 2021 aussehen? Antrag und Bewilligung Kurzarbeit, Erarbeitung von für alle Mitarbeitenden transparenten Zukunfts-Szenarien…

Daneben Glück und riesige Dankbarkeit,
- so viel Solidarität, Ermunterung und Zuspruch von unseren Kunden zu erfahren
- für das Privileg in der Schweiz zu leben, einem Land mit besonnener und verantwortungsbewusster Regierung , mit vergleichsweise grossen finanziellen Spielräumen, welche entschlossen und unbürokratisch genutzt werden und uns mit der bewilligten Kurzarbeit - auf Zeit - enorm entlastet.»

Zoom: Martin Fischer, Inhaber berg-welt ag & Bergführer IVBV
Zoom: Skitourenwoche im Südtirol

«Turbulente Zeiten oder Krisen gibt es auch bei Expeditionen oder Besteigungen – kannst du uns ein Erlebnis aus deiner Bergführer-Karriere schildern?»

«Eine zentrale Aufgabe eines Bergführers ist neben der Gäste-Betreuung das Risikomanagement – vorausschauen, welche Rahmenbedingungen habe ich, was für mögliche Gefahren und Risiken bestehen bzw. können entstehen, entscheiden. Ich habe eine tiefe Risikoschwelle, das hat mich bis jetzt in den Alpen vor grösseren Schwierigkeiten bewahrt.

Heikler sind Expeditionen zu hohen Bergen oder in der Arktis. Hier sind die Dimensionen von Natur und Abgeschiedenheiten viel grösser und vor allem Wetterintensitäten von Niederschlag und Wind viel stärker und unberechenbarer.

Ein Beispiel aus Spitzbergen:
Ich war vor einigen Jahren im April mit einer unserer Expeditionsgruppen mit Skis und Pulka im Atomfjella unterwegs. Die vorangegangenen beiden Tage waren zu warm, Kleider und Material vom Schneeregen nass, die Unterlage weich. Im letzten Teil der Etappe drehte der Wind plötzlich auf Nord, frischte umgehend sturmartig auf, die Temperatur sank innerhalb einer Minute auf unter minus 10°. Der feuchte Schnee vereiste unter Fellen und Pulka, ein Abschlagen der Stollen erwies sich als sinnlos, die Vereisung setzte gleich nach den nächsten Metern wieder ein. Wir mussten die vereisten Pulkas in enormem Kraftakt über eine matschige Ebene schleifen und konnten erst nach Erreichen der Gletscherzunge mit trockeneren Verhältnissen Felle und Pulkas mit Pickel vom Eis befreien.
Den Lagerplatz erreichten wir erst gegen 23 Uhr. Der Wind blieb stürmisch. Kommunikation war praktisch nur noch mit Handzeichen möglich. An ein Aufstellen der Zelte war erst nach dem Aufbau einer starken, schützenden Schneemauer zu denken. Das Schneeschmelzen und Kochen waren massiv erschwert. Dank dem selbstlosen Einsatz aller Teilnehmenden lagen wir geschützt und verpflegt gegen 7 Uhr morgens in den warmen Schlafsäcken und konnten uns während der Schlechtwetterphase gebührend ausruhen.»

Zoom: Wetterumschlag auf der Ski-Expedition Atomfjella Spitzbergen
Zoom: Wenn der Sturm vorbei ist - Skiexpedition Atomfjella

«Inwiefern helfen dir solche erlebte Situationen bei Krisen im Alltag?»

«Erkenntnis und Vertrauen aus dem Erlebten: Krisensituationen wie diese schweissen Teilnehmende zu einem echten Team zusammen, jedes Einzelne entwickelt zusätzliche Energien und Kräfte, setzt sich für das andere ein. Die Schwierigkeiten im anhaltenden Sturm sind die nicht absehbare Dauer bzw. das nicht absehbare Ende. Ist der Spuk vorüber, scheint die Sonne, ist die Ausrüstung trocken, das Erlebte fühlt sich halb so schlimm an.»
 

«Und in Bezug auf das Corona-Virus?»

«Im Fall von Covid19 ist das fehlende absehbare Ende die Schwierigkeit. Die Entwicklung unserer Fähigkeiten, das Virus ertragbar einzudämmen und mit dem Virus und entsprechenden Einschränkungen leben zu lernen, ist die Aufgabe an uns alle.»


«Was bedeuten die Reise-Einschränkungen für die Zukunft von berg-welt?»

«Mit dem aktuellen Reisestillstand müssen und können wir leben – auch wenn’s sehr wehtut. Besonders hart trifft es unsere vielen lokalen Mitarbeitenden, welche mit dem Wegbleiben von Touristen ums Überleben kämpfen.

Die Zukunft wird sehr steinig und vermutlich sehr schmerzhafte Entscheide unumgänglich machen.

Die Herausforderungen sind der Umgang mit Unsicherheiten über Entwicklung bzw. Eindämmung des Virus, der Umgang mit ständigen und raschen Änderungen, mit der damit verbundenen Unplanbarkeit und die Geschwindigkeit unseres Lernprozesses.»


«Was meinst du mit Lernprozess?»

«Wir als berg-welt werden lernen, mit diesen Unsicherheiten umzugehen, mit den zum Zeitpunkt x möglichen Reisen bereit zu sein und sie durchzuführen – immer mit dem Anspruch, die Reise in Bezug auf Gesundheit unserer Teilnehmenden zu verantworten und ihnen durch unsere Ortskenntnisse,  unsere informierten lokalen Partnern und Mitarbeitenden und entsprechenden Schutz- und Verhaltensmassnahmen eine entspannte und erfüllte Reise zu ermöglichen und damit ihr Vertrauen in uns und unsere Reisen zu festigen.


Reisewillige werden lernen, nur die Ferienzeit zu planen und den Entscheid zur Destination erst kurzfristig bei deren Durchführbarkeit flexibel zu fällen. Sie werden lernen, Einschränkungen zu akzeptieren und trotz diesen unauslöschlich schöne Reiseerlebnisse zu geniessen.»
 

«Wird berg-welt in der aktuellen Situation überhaupt neue Destinationen für 2021 im Programm aufnehmen?»

«Ja, wir werden alles daran setzen, unseren Kunden neben dem machbaren, angestammten Programm weitere spannende Angebote in der Schweiz und attraktive Reisen im benachbarten Ausland, möglichst mit Erreichbarkeit per Bahn oder Bus, anzubieten.»

Zoom: Panorama-Wanderungen Mont-Blanc Region
Zoom: Panorama-Wanderungen Mont-Blanc Region

«Du hast in der vergangenen Woche Wanderungen im Mont Blanc-Gebiet erkundet. Was war dein Anstoss und was dürfen unsere Gäste erwarten?»

«Ja, das ist genau ein Beispiel der vorher erwähnten neuen Angebote.

Mich fasziniert das Mont Blanc Massiv seit ich als jugendlicher Kletterer zum ersten Mal dort war. Wenn ich über den Col des Montets fahre und den weiss leuchtenden Koloss Mont Blanc, die danebenliegende Kette bizarrer Felsnadeln der Aiguilles de Chamonix, die Felsbastion der Dru, die Eisbalkone der Verte erblicke, stockt mir noch heute der Atem. Ein einzigartiger, unvergleichlich beeindruckender Teil unserer Alpen!

Vor diesem Panorama habe ich viele Wege erkundet, um die attraktivsten Wanderungen mit möglichst unterschiedlichem Charakter zu einer Wanderreise zusammen zu stellen. Unsere Gäste dürfen sich auf ein einmaliges Wandererlebnis mit atemberaubenden Panoramen direkt an der Schweizer Grenze freuen.

Das Angebot ist für nächstes Jahr geplant. Wir haben uns am Mittwoch aber entschlossen, die erste Durchführung bereits Mitte September anzubieten und ich lasse es mir nicht nehmen, diese selber zu leiten (lacht)!»

Steffisburg, 13. August 2020

Zoom: Wanderung Region Mont Blanc
Zoom: Faszination Mont Blanc

Wenn der Sturm vorbei ist - Skiexpedition Atomfjella

Zoom: Wenn der Sturm vorbei ist - Skiexpedition Atomfjella